erschienen im Hamburger Abendblatt
Loki Schmidt am Schachtisch
Hannelore, “Loki”, Schmidt, Gattin des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt aus Hamburg
von Johanna Renate Wöhlke
Nein, es ist nicht aus der Mode gekommen, den Älteren und Alten zuzuhören, wenn sie die “Wie-es-damals-war” Geschichten erzählen. In diesem Fall ergab sich für mich sogar ein Besuch bei Loki Schmidt. Die Geschichte vor der Geschichte ist schnell erzählt: Dem Helmut Schmidt, so berichtete mir mein Schwiegervater, dem ist er im Fischbeker Holtweg in Hamburg Neugraben nach dem Krieg begegnet, vor einem der damaligen Wochenendgrundstücke, von dem hier viele bis heute noch wissen, dass es das Wochenendgrundstück der Großeltern von Loki Schmidt war. “Und ich als Sanitätsfeldwebel musste ihn als Offizier natürlich grüßen!”
Begegnungen mit Persönlichkeiten der Weltgeschichte, wenn auch nur kurz wie hier mit Helmut Schmidt, dem späteren Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, das vergisst man nicht. Ich aber werde aus einem anderen Grund hellhörig. Großeltern und Wochenendgrundstück, das hört sich nach Kindheit und Kindheitserlebnissen im Spiel in der Fischbeker Heide an, vielleicht sogar über viele Jahre. Also ein Thema für mich. Loki Schmidt enttäuscht mich nicht. Gerne ist sie bereit, über ihre Kindheitserlebnisse in der Fischbeker Heide und ihre Kindheitsspiele zu erzählen. Bis etwa 1936 als sechzehnjährige verbrachte sie ihre Ferien und Wochenenden auf dem Grundstück der Großeltern, die es 1880 gekauft hatten. Danach war sie wieder nach der Ausbombung dort, “wie alle da landeten, wo sie Verwandte hatten”.
Zurück in der Kindheit, beschreibt sie das romantische Bild ihres malenden Vaters an der Kiesgrube am Rande der Heide, gerade eine Birke vor Augen, die Mutter und – die kleine Hannelore als erstgeborenes Kind unter vier Geschwistern, die später selbst aus ihrem Namen Hannelore den Namen Loki kreierte. Die Heide damals: weit und ohne ein einziges Haus, viele Bickbeeren. “Ich kenne die Heide noch mit Eichen”, erinnert sich Loki Schmidt und auch daran, dass die Bauern ihre Schafe noch mit Heide fütterten. Sie erzählt von gelben Lupinenfeldern, Buchweizenfeldern, auch vom Lehrer ihres Vaters, der ebenfalls ein Heidegrundstück besaß, und mit dem sie gemeinsam durch die Heide streifte.
Als zwölfjähriges Mädchen war das Wasserloch hinter der Kieskuhle ihr Forschungsobjekt für eine Schularbeit, in der sie genau die dort angesiedelten Pflanzen beschrieb. An der heutigen Wendeschleife Waldfrieden waren damals noch Sumpflöcher, in denen Kreuzottern beobachtet werden konnten. Aus den Binsen dort flochten die Kinder Hüte und Körbe. Die Natur stellte die Mittel bereit, aus denen die Kinder mit Phantasie und Erfindungsgabe Spielzeug bastelten. Für Loki Schmidt ideale Bedingungen, um im Spiel zu lernen und damit spielerisch in das Erwachsenenleben hineinzuwachsen, aus Spiel Ernst werden zu lassen.
“Ich bedauere, dass dies heute nicht mehr so möglich ist”, resümiert sie. “Noch so kunstvolle elektronische Spiele regen die Phantasie nicht so an.” Damals in der Fischbeker Heide, da waren sie, ihre Geschwister, Cousins und Cousinen – die Großeltern hatten vier Töchter und neunzehn Enkelkinder – und die Nachbarskinder noch ihre eigenen “Gamedesigner”. Die Natur stellte die Requisiten bereit, aus denen die Spiele des Sommers gestaltet wurden. Auf dem Heidehügel ihres Grundstücks standen Birken und Kiefern. Der Großvater hatte auch einen Knöterich gepflanzt, einen mit besonders großen Blättern. Die langen Nadeln der Kiefer eigneten sich vorzüglich dazu, die großen Knöterichblätter auf allerlei Weise kunstvoll zusammenzuhalten. So entstanden Gürtel, Schärpen und andere Gegenstände.
Neue Spiele entwickelten sich auch im Zusammenwirken der vielen Kinder und im Lernen voneinander, innovativ und kooperativ. Loki Schmidt sagt es kurz und prägnant: “Unsere Schöpferkraft wurde angeregt.” Ein Prozess, und das ist Loki Schmidt sehr wichtig, der sich unter sehr ärmlichen Umständen vollzog: Heidegrundstück und Wochenendhaus, das bedeutete eine spartanisch ausgestattete etwa vier Quadratmeter große Bude ohne Wasser und Toilette. “Bei Regen war es trostlos, aber ich erinnere mich nicht an Regen”, außer, die Kinder machten nach einem Gewitter wieder ein Spiel daraus: Sie duschten unter einer Birke, nachdem einer von ihnen in den Baum gestiegen war und ihn schüttelte.
Und wieder ist es das sinnliche Erfahren der Natur, das Loki Schmidt besonders lebendig an die Heide erinnert. “Der Heidesand war schneeweiß, aber abends hatten wir schwarze Füße, schwarze Füße vom weißen Heidesand. Es war so ein sinnliches Vergnügen, durch weißen Heidesand zu laufen!”
Liegen in all diesen Erinnerungen die Wurzeln für ihr späteres Engagement auf dem Gebiet der Botanik? Loki Schmidt verneint. “Das war meine Neugierde. Aber Neugraben war das Feld, das ich damit abgrasen konnte.” Neben Spielen in der Natur gab es aber auch noch ein großes Reservoir anderer Spiele: Schlagball und Treibball mit gesuchten, alten Stöcken; Probe an der Wand und ein Spiel mit dem Namen Abo-Bibo. Dabei wurde der Ball mit Kraft auf das Pflaster geprallt und während des Hochprallens und Fangens mussten sich die Mitspieler verstecken.
Kippel-Kappel war ein an beiden Enden angespitztes Holzstück, das mit einem Stock geschlagen werden musste. Den Kreisel bei Kreiselspielen nannten die Kinder Kräusel. Auch Marmel-und Kreisspiele waren beliebt. Anfang der dreißiger Jahre kam ein Geschicklichkeitsspiel mit etwa ein Kubikzentimeter großen Würfeln auf: Bedukt oder Produkt, erinnert sich Loki Schmidt. Der Spielablauf: Fünf Würfel in der Hand, einen hochwerfen, vier hinlegen, einen hochwerfen, einen aufnehmen, einen hochwerfen, den zweiten aufnehmen und das so lange wiederholen, bis alle fünf Würfel wieder in der Hand sind. Wer sich die Würfel nicht kaufen konnte oder wollte, benutzte kleine Steinchen für das Spiel.
Hinkebock war beliebt, das Hüpfen in einer durch Quadrate aufgeteilten Fläche. Die Kinder heute kennen es auch noch: In die einzelnen Quadrate werden Steine geworfen und müssen hinkenderweise wieder aufgehoben werden, ohne dass dabei die Markierungen mit dem Fuß berührt werden. “Und wenn sie als spielerisch auch das Kanonsingen beim Abwaschen verstehen”, ergänzt Loki Schmidt, dann habe sie auch das gemacht. Denn als älteste Tochter musste sie in wirtschaftlich harten Zeiten den Haushalt versorgen.
Später als Lehrerin habe sie viele der Kindheitsspiele im Unterricht der ersten Klassen wieder einsetzen können. Der eigenen Tochter und auch Kindern in der Verwandtschaft hat sie gerne Skat beigebracht, ein Spiel, das heute noch gerne im Hause Schmidt gespielt wird. Und nach inzwischen 54 Jahren Ehe mit Helmut Schmidt spielt sie immer noch gerne Schach mit ihrem Mann – obwohl sie meistens dabei verliert. “Wir spielen es regelmäßig, solange wir uns kennen.”
Der Schachtisch mit den beiden Stühlen, Intarsienstühlen aus den Vierlanden, hat seinen festen Platz im Wohnzimmer, in der Nähe des schwarzen Flügels. Und es braucht nicht viel Phantasie, um sich gemeinsame Abende vorzustellen, zwischen vielen Büchern, in der Atmosphäre eines über viele Jahre gewachsenen Heimes, jede Ecke, jeder Winkel, jedes Bild, jede Skulptur eine Erinnerung und verbunden mit einer gemeinsamen Geschichte. Einer Geschichte, zu der über Jahre auch Hamburg Neugraben gehört, Neugraben und die Fischbeker Heide im Süden Hamburgs.
An diesem Schachtisch und den Stühlen mit Vierländer Intarsien spielen Loki und Helmut
Schmidt seit vielen Jahren Schach miteinander.
(der Artikel ist am 14.Dezember 1996 in der Harburger Rundschau/Hamburger Abendblatt erschienen)
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