Geburtsort der Aphrodite auf Zypern

An diesem Tag auf Zypern werde ich dem Ursprung einer Göttergeschichte so nahe sein wie nie zuvor in meinem Leben – einer griechischen Göttergeschichte. Aber das weiß ich am Morgen noch nicht. Alles habe ich nämlich vor dieser Reise nicht über Zypern gelesen.

Ich verlasse das Schiff am frühen Morgen im Hafen von Limassol und mache mich im Bus auf den Weg nach Paphos. Dort, so steht es im Reiseführer, gibt es in einem großen Freilichtmuseum wunderbare antike Mosaike zu bewundern. Die haben es mir angetan. Sie möchte ich gerne sehen. Das Mosaik ist für mich schon lange eine Metapher für das Leben. Setzt sich nicht unser ganzes Leben, jeder einzelne gelebte Tag, am Ende wie ein Mosaik zu einem Ganzen zusammen?

Dieser Tag wird an seinem Ende durch ein anderes besonderes Erlebnismosaik reicher sein, denn auf dem Weg nach Paphos erschließt sich mir eine Gottesgeschichte, genauer eine Göttinnengeschichte. Plötzlich hält der Bus nämlich auf einem kleinen Parkplatz oberhalb der steilen Küste des Meeres. Die Reiseführerin weist auf einen kleinen Felsen zur Linken vor uns und erklärt: „ Hier wurde Aphrodite geboren!“ Mehr zur Geburt der Aphrodite erfahren wir nicht. Wer will den Geburtsort der Göttin Aphrodite nicht sehen? Keine und keiner will ihn nicht sehen! Die Kameras werden gezückt. Hier, so die Reiseführerin weiter, sei Aphrodite an Land gegangen und habe sich hinter einem Myrtenstrauch versteckt. Dann sei sie von den Horen geschmückt und dann den Sterblichen präsentiert worden.

Ich bin überrascht von dieser Information. Die Kamera kann sich wie immer nicht dagegen wehren, wieder einmal eine Urlaubserinnerung dokumentieren zu müssen. Wahrscheinlich macht sie das an diesem Ort besonders gerne. Das Foto hält den kleinen Felsen dicht an der Küste fest, einer Küste mit flachem smaragdblauen Wasser. Der Himmel mag sich nicht zu einem strahlenden Blau durchringen. Da ist die Vorstellung einer Schaumgeborenen, einer strahlend Schaumgeborenen, gerade richtig.

Die Fahrt geht weiter, die Gedanken verharren bei der Göttin der Liebe. Wieder Zuhause lese ich weiter nach.  Was gibt es noch zur Geschichte der Göttin Aphrodite? Die Urlaubsnachlese überrascht mich mit skurrilen Grausamkeiten, die mir nicht bekannt gewesen sind:

Nicht unbekannt ist uns allen das Pantheon, der griechische Götterhimmel, bestehend aus einem vielfältigen Gewirr familiärer Beziehungen, einer variantenreichen Welteninszenierung. Danach hatten zu Beginn Uranus und seine Mutter Gäa, auch Mutter Erde genannt, eine inzestuöse Beziehung. Daraus gingen zuerst die Zyklopen, dann die Titanen hervor. So lese ich es.

Als dann später Uranus die rebellischen Zyklopen in die Unterwelt, den Tartarus, schleuderte, gab Gäa ihrem jüngsten Sohn Kronos – wir kennen ihn als den Gott der Zeit – eine Sichel. Mit dieser Sichel schnitt er seinem Vater Uranus die Genitalien ab. Die warf er in das Meer und aus dem blutigen Schaum entstieg an diesem Ort Aphrodite, die „schaumgeborene Göttin der Liebe“.

Noch nachträglich schaudere ich. Die Göttin der Liebe, geboren aus dem blutigen Schaum der abgeschnittenen Genitalien des Uranus! Aber das ist nicht die einzige Geschichte zur Geburt der Aphrodite. Die Recherche ergibt alternative Mythen. Da ist sie einmal – Homer berichtet darüber – die Tochter von Zeus und Dione. Dann wird berichtet, sie sei in einer Muschel geboren worden. Das berühmte Gemälde von Botticelli stellt dies in der Geburt der Venus dar, der Göttin der Liebe in der römischen Mythologie. Dann wiederum lese ich, Aphrodite sei gemeinsam mit den Erinyen und den Moiren eine Tochter des Kronos. Andere sagen,  sie sei aus einem Ei geschlüpft, von Fischen an Land gerollt und von Tauben ausgebrütet worden.

Die letzten Möglichkeiten der Geburt der Aphrodite ordne ich in den Wahrnehmungssektor „erwartet“ ein. Da entsteht kein Schauder. Die erste Variante ist es, die die Gedanken und das Rätseln beflügelt: die Göttin der Liebe, geboren aus den abgeschnittenen Genitalien eines Gottes. Was steckt in und hinter solchen Sprachbildern der Mythologie?

Bei Gustav Benjamin Schwab, einem deutschen Pfarrer, Professor und Schriftsteller des 18. Jahrhunderts in Schwaben, findet sich eine plausible Erklärung: „Sie ist das erste Schöne, was sich aus Streit und Empörung der ursprünglichen Wesen gegeneinander entwickelt und gebildet hat. In ihr bildet sich die himmlische Zeugungskraft zu dem vollkommenen Schönen, das alle Wesen beherrscht und welchem von Göttern wie Menschen gehuldigt wird.“ Schwab schuf mit seinen „Sagen des klassischen Altertums“ einen Klassiker der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur.

Die Erklärung Schwabs lässt mich zurück im Vermuten, Denken und Assoziieren. Sie fordert geradezu auf, sich noch mehr mit dem Phänomen der Schönheit im menschlichen Leben, Hoffen und Sehnen auseinander zu setzen. Wo finden wir ihn nicht überall heute, den „blutigen Schaum“ aus der Schönheit sich zu bilden vermag. Welche blutigen Spuren hinterlässt das Streben nach einem schönen Schein im Leben der Menschen – und dies ist erst der Anfang des Denkens über eine phantastische Geschichte antiker Mythologie.

Die Erinnerung an einen grauen Tag auf Zypern und der Anblick eines kleinen Felsens im smaragdblauen Meer werden bleiben. Eine Reiseerinnerung der besonderen Art verfestigt sich. Das Bild eines Bildes entfaltet sich. Der Weg zu den Mosaiken von Paphos, wie er während der Reise ganz real geplant war, er setzt sich nun im Aufbereiten der Erinnerungen fort und vervollständigt mein Lebensmosaik des Erlebten auf überraschende Weise. Diese Art Reisen, diese Art des Erinnerns sind es wahrscheinlich immer wieder, weshalb wir Menschen uns auf den Weg in das noch Unbekannte machen.

 

 

 

 

 

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