http://www.hamburg.de/fluechtlinge-unterbringung-standorte/
Flüchtlinge in meinem Stadtteil Hamburg Neugraben-Fischbek. Ehemaliger OBI Markt wird zur Zentralen Aufnahme. Pavillonhäuser für 3000 Menschen bis Ende des Jahres 2015 geplant.
Beim Abverkauf wegen Geschäftsaufgabe vor zwei Jahren war gerade Vorweihnachtszeit. Alles reduziert, bis zu 50 Prozent und mehr. Da ging ich noch einmal hin, um „zuzuschlagen“. Wohin? In den OBI-Markt in Hamburg Neugraben. Wie würde sich mein Mann freuen über diese Weihnachtsüberraschungen, mehr ein Spaß natürlich. Ich sah ihn im Geiste schon Päckchen für Päckchen auspacken – die Familie drumherum und mit jedem Päckchen mehr in Lachen ausbrechend und erwartend, was denn wohl unter dem Weihnachtspapier zum Vorschein kommen würde. Aber genau so sollte es ja sein: Bauhandschuhe, Verlängerungskabel, Spachtel, Bänder, verschiedene Farben, Tapetenkleister, Bohrer für die Bohrmaschine, Blumensamen, Bürsten, Hammer, kleine Handsäge – und alles fein säuberlich Stück für Stück in Weihnachtspapier eingewickelt. All das gab es bei OBI, im überbordenden Überfluss.
An diesem Septembermorgen, am 18. September 2015, gab es im ehemaligen OBI-Markt nichts auszupacken – oder doch? Es war Auspacken mit den Ohren. Es gab Informationen. Auch die haben es in sich – sich langsam aus ihrer „Verpackung“ des Ungewissen entkleidend und die Empfänger in die unterschiedlichsten Gemütsstimmungen versetzend. So sollte es auch heute sein.
„Quartiersentwicklung Am Aschenland/ Geutensweg“ stand da auf der Einladung zur Pressekonferenz und dann „Vorgestellt werden die Planungen zur öffentlich-rechtlichen Unterbringung von Flüchtlingen“. Bei den Teilnehmenden wurde klar, dass es hier nicht um irgendetwas gehen würde. „Teilnehmen werden Bezirksamtsleiter Thomas Völsch, Staatsrat Jan Pörksen, Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration (BASFI), Staatsrat Bernd Krösser, Behörde für Inneres und Sport (BIS) sowie Harald Krüger, Vorstand Deutsches Rotes Kreuz, Kreisverband Hamburg-Harburg e.V.“
Welche Informationen also? Welche Informationen in „meinem alten OBI“, dem Ort unzähliger Besuche über Jahre, zu allen Jahreszeiten, in allen Abteilungen, auf der Suche nach etwas, das unbedingt zum Leben von uns in Jahrzehnten zu Heimwerkern entwickelten Bundesbürgern gehört: alles für den Heim- und Handwerker eben, hier im Süden der Stadt, wo viele ihr Häuschen und Haus haben, ihren Garten, ihren Balkon, ihr Laminat selbst verlegen, all das über Jahre gewachsene an vertrautem Sortiment einer wohlhabenden Gesellschaft von der Schraube bis zur Weihnachtskugel.
Was also ist hier mit Flüchtlingen geplant? Die Presseinformationen flossen reichlich, gegeben in diesem riesigen leeren Baumarkt, der nun schon fast bis zur Hälfte mit Feldbetten ausgestattet war, nur der Parkplatz und das Eingangsportal noch vertraut. Kameras, Mikrofone, Notizblöcke und Journalisten umgeben vom vorbereitenden Fegen und Wischen von Helfern, Verteilen von Schlafsäcken und Feldbetten, noch Sägen und Hämmern bis alles fertig sein würde. Sie unterlegten die Pressekonferenz mit ganz besonderen „O-Tönen“, Zeit erheischenden Originaltönen, die Begleittöne eines Wandels, der es in sich haben wird. Tausende fremde Menschen sind auf dem Weg hierher in eine hoffnungsvolle Zukunft. Das hat es in Neugraben-Fischbek in dieser Form noch nie gegeben.
Die Stadt Hamburg hat den alten OBI Markt einen Tag vorher gekauft. In wenigen Stunden werden hier im Süden Hamburgs um die 300 Flüchtlinge aufgenommen werden. Das wird erst der Anfang sein. Etwa 4000 Flüchtlinge werden noch kommen. Die ersten werden auf diesen Feldbetten in diesem ehemaligen OBI schlafen und leben, aber es werden langfristig Pavillonhäuser für sie gebaut werden. Ein Stadtteil im Stadtteil wird entstehen und auch die dafür erforderliche Infrastruktur: Kindergarten, Schule, Arztpraxen, Begegnungsstätten…ein Quartier im Wandel. Keine langwierigen demokratischen Prozesse des Für und Wider. Aus dem Boden stampfen nennt man das. Es muss sein, weil es nicht anders geht; so schnell wie möglich und doch nicht schnell genug.
Die einfachen Feldbetten hier werden durch Doppelstockbetten ergänzt werden. Die sind zurzeit nirgends mehr zu bekommen, ausverkauft in Deutschland. Seit Anfang September jeden Tag 500 Flüchtlinge jeden Tag in Hamburg und nicht nur hier. Das nennt man Kapazitätsgrenze. Das Deutsche Rote Kreuz Kreisverband Hamburg-Harburg e.V. bereitet das Gelände und Gebäude des alten OBI Marktes vor und übernimmt die Organisation erst einmal mit 15 fest angestellten Mitarbeitern. Dazu kommen Wachdienst und Reinigungsfirmen und die Versorgung mit Nahrung. Weiteres Personal wird langfristig benötigt werden. Ohne zusätzliche ehrenamtliche Helfer, ohne sehr viele ehrenamtliche Helfer, wird es nicht gehen.
Noch am selben Abend sind die digitalen Medien voll mit diesen Informationen. Die Printmedien folgen am nächsten Tag. Es wird ausführlich berichtet. Auch das ist erst der Anfang, der Anfang einer neuen Zeit. Sie werden alle hierher schauen, in den Süden der Stadt: Was wird in zehn Jahren geworden sein? Wie wird es laufen, wie wird es gehen mit dem Miteinander?
Die private Initiative „Willkommen in Fischbek“ gibt es schon. Sie heißt so, weil die ersten Planungen vorsahen, Flüchtlinge im Einzugsbereich der evangelischen Cornelius-Gemeinde in Fischbek anzusiedeln. Pastor Gerhard Janke der Cornelius Gemeinde hat eine Website errichtet, auf der sich jeder darüber informieren kann, was gerade wo an Hilfe gebraucht wird: http://infischbek.de/ Man kann sich als Helfer eintragen lassen. Die Kirchengemeinden im Bezirk sind im Gespräch, um Hilfe langfristig zu strukturieren, und helfen mit. Deshalb wird die Initiative wohl demnächst „Willkommen in Süderelbe“ heißen.
Am ersten Tag waren schon etwa 180 Helfer vor Ort. Viele, viele Sachspenden sind eingegangen. Es läuft an, und in seiner Mail an diejenigen, die sich dafür auf der Website eingetragen haben, schrieb Pastor Janke am 19. September um 16 Uhr, also einen Tag nach dem Einzug der ersten Flüchtlinge: „Nicht jede Hose passt, und die verteilten Sachen müssen ja auch irgendwie verwahrt werden – Schränke gibt es in dieser provisorischen Unterbringung ja nicht. Falls Ihr also noch Gürtel und Koffer in Euren Schränken und Kellern habt, die Ihr abgeben und spenden könnt – die wären hoch willkommen!“ Auf das Leben nach den Gürteln und Koffern warten alle – und das wird die langfristige Herausforderung sein.
Wieder erinnere ich mich an diese Vorweihnachtszeit vor zwei Jahren, als im OBI Markt am Geutensweg alles im Umbruch war, alles durcheinander - ein Geschäft dabei, aufgegeben zu werden und umzuziehen. Da fragten wir uns: Was wird sein? Wer wird hier einziehen? Jetzt wissen wir es und wissen es doch nicht. Noch sind wie uns fremd, die Probleme am Horizont. Aber das soll nicht so bleiben.
Bedenken wir unsere eigene Integration in unserer Gesellschaft. Wie steht es damit? Wie schwierig ist das manchmal! Ist unser Nachbar denn immer unser Freund, mit dem wir unser Leben verbringen wollen? Ist es nicht vielmehr wichtig, das friedliche Nebeneinander zu fördern und so das Miteinander anzusteuern, in dem jeder seinen individuellen Weg finden kann, den Weg in einer freien Gesellschaft? Ich bin mir sicher, dass wir das schaffen können. Nicht überfordern, aber auch nicht unterfordern.
Die Regeln unserer Gesellschaft und unseres Staates sind klar und bewährt. Vielleicht wird auch uns das wieder viel mehr bewusst, wenn wir von den Fremden „einklagen“, sich in unsere Gesellschaft zu integrieren. Diese Menschen wollen zu uns und das sicher nicht alle nur, weil wir ein reiches Land sind. Für diese Möglichkeiten, die Lebenschancen einer freien Gesellschaft haben Jahrhunderte vor uns in Europa viele Menschen gekämpft und haben ihr Leben gegeben. Das haben wir längst vergessen.
Die Rückschläge in Europa aus jüngster Zeit kennen wir alle und die Alten haben sie noch im Kopf. Der Zweite Weltkrieg ist so lange noch nicht her; die Flüchtlingsbewegungen im Verlaufe der deutschen Wiedervereinigung auch nicht, der Bosnien-Krieg.
Diese Herausforderung hier und heute gilt allen: den hier lebenden Christen, den Muslimen, den Atheisten, den Humanisten, den Rechten, den Linken, den Liberalen, den Grünen, den Schriftstellern, den Journalisten, den Künstlern – den schier endlos sich in ihrer Individualität eingerichtet habenden Gruppen unseres Staates und unserer Gesellschaft – und ganz Europa und der Welt.
Wir haben die Vielfalt zum Credo unserer Gesellschaft in ihrem Innenverhältnis gemacht weil Freiheit Vielfalt gebärt. Aber auch an der Vielfalt im Außenverhältnis, in unserer globalisierten Welt, führt kein Weg mehr vorbei. Wir haben diese bunte Vielfalt nun nicht mehr in ausgewählter Exotik bevorzugt im Urlaub auf dem Teller oder in billiger Kleidung auf unserem Körper. Wir haben sie in unserer Nachbarschaft. Es sind Menschen.
Anmerkung:
Die Autorin ist nach dem Zweiten Weltkrieg mit ihrer Familie aus Sachsen mit nichts als einem Koffer in die Bundesrepublik geflüchtet. Es gab hier Verwandte, die die vierköpfige Familie mit zwei kleinen Kindern aufnahmen. Die Eltern waren davor schon aus Ostpreußen nach Sachsen geflüchtet. Nach vier Wochen zog die Familie in eine Wohnung in ein altes Bauernhaus: nur in einem Zimmer Ofenheizung, kein fließend Wasser, also auch keine „normale“ Toilette, reichlich Eisblumen im Winter an den Fenstern, kochen auf einem alten Herd mit Holz und Kohle, Wasser von der Pumpe sommers und winters, Wäsche waschen auch auf diese Weise. Wohlstand kam viel später. Ein Leben in Freiheit machte es möglich.
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