Dieser Artikel ist 1997 im Hamburger Abendblatt erschienen und passt nun in die Erinnerung, denn 2016 werden die Hamburger Kammerspiele 70 Jahre alt.
Der geheimnisvolle Talisman der Prinzipalin
Auf den Spuren eines zerlumpten Püppchens.
Geschichten ergeben Geschichten. In einer alten Geschichte steckt eine neue verborgen wie in den russischen Matrjoschka-Puppen immer noch eine Puppe mehr steckt, bis man zum Kern vorgedrungen ist und in einer kontinuierlichen Reihe alle von der größten bis zur kleinsten vor sich aufgereiht hat.
Daran muss ich denken, als ich Carlheinz Hollmann und seine Frau Gerti in Luhmühlen besuche. Außerdem geht es an diesem Nachmittag tatsächlich um eine Puppe: den Talisman von Ida Ehre, der ehemaligen Prinzipalin der Hamburger Kammerspiele. Nach ihrem Tod 1989 gelangte die Puppe als Geschenk der Tochter von Ida Ehre, Ruth Müller—Eisler, zusammen mit einer Meißener Vase und einem Half-Dollar Stück in den Besitz der Hollmanns. Einmal neugierig geworden, fragte ich mich, welche Geschichte wohl hinter diesem kleinen, zerlumpten Püppchen stecken möge.
Soviel wussten die Hollmanns zu erzählen: Die Puppe hat Ida Ehre über viele Jahre bei ihren Auftritten begleitet und saß immer über ihrem Schminkspiegel – die Glieder aus Drahtgestell mit Hanf umwickelt, ein männliches asiatisches Gesicht mit einem verinnerlichten, traurigen, fast leidenden Gesichtsausdruck, ein zerrissenes Wams mit einer verblichenen Goldkordel und einer zerlumpten blauen Hose mit beigefarbenen Streifen. Wir rätseln: Soll er ein Bettler, ein fahrender Mann, ein Gaukler sein?
Noch an diesem Nachmittag können wir uns dem Geheimnis ein bisschen nähern. Denn Carlheinz Hollmann erreicht Ruth Müller-Eisler telefonisch. Wir können sie nach der Puppe befragen. Sie berichtet mir aus der Erinnerung, dass der Talisman das Geschenk eines Schauspielers sei, mit dem ihre Mutter zusammen in den Kammerspielen auf der Bühne stand. Sie meint, es sei ein Schauspieler namens Edgar Wiesemann gewesen. Er sei ihr auch deshalb in Erinnerung geblieben, weil er asiatische Kampftechniken praktiziert habe. Vielleicht stecke hinter der Figur eine „tibetanische Geschichte“, ansonsten sei ihr die Herkunft oder Bedeutung nicht bekannt.
Ein Anruf bei den Hamburger Kammerspielen bleibt erfolglos. Man sei nicht der Nachlassverwalter von Ida Ehre, höre ich, und Unterlagen oder ein Archiv gäbe es nicht. Mehr Glück habe ich bei unserer Dokumentation ( Die gab es früher beim Hamburger Abendblatt zur Recherche, d.Verf.). Dort hat man vier Zeitungsausschnitte über Edgar Wiesemann. „Er hat 1968 den Tartuffe mit ihr gespielt“, höre ich die nette männliche Stimme sagen. Eine Adresse oder Telefonnummer gäbe es jedoch nicht. „Versuchen Sie es doch mal bei der Telefonauskunft, vielleicht können die ihnen weiterhelfen.“
Da habe ich wenig Hoffnung und sehe mich schon am Telefon sitzen und lauter Edgar Wiesemanns in der Bundesrepublik anrufen und nach meiner Puppe befragen. Zu meinem Erstaunen gibt es in der bundesweiten Kartei der Telekom nur einen einzigen Edgar Wiesemann in der Nähe von Freiburg im Schwarzwald und: Er ist wirklich der, den ich gesucht habe!
Es müsse Anfang der siebziger Jahre gewesen sein, berichtet er. Da habe er mit Ida Ehre das Zweipersonenstück „Der Sohn“ gespielt. Sie habe ihn immer „mein lieber Narr“ genannt, und das Verhältnis zwischen ihnen sei immer sehr herzlich gewesen. Am Ende ihrer gemeinsamen Arbeit habe er ihr dann das Püppchen, das einen Clown darstelle, geschenkt. Denn es sei am Theater üblich, sich nach einer Zusammenarbeit kleine Geschenke zu machen.
Wiesemann ist überrascht zu hören, dass sein kleines Geschenk für Ida Ehre im Laufe der Zeit die Bedeutung eines Talismans erhalten hat. Er erinnert sich an die gemeinsame Arbeit mit dem Stück und ihm fällt eine Episode ein, die beispielhaft für die Komödiantin und den Clown Ida Ehre sei:
Am Abend der fünfundzwanzigsten Vorstellung hatte sie ihm statt des üblichen Tees Cognac in ein Glas gegossen. „Da ich vor einer Vorstellung nie etwas esse“, erinnert sich Edgar Wiesemann, „trank ich den Cognac und wurde langsam davon etwas beschwipst.“ Ida Ehre habe ihm dann in einem passenden Moment zugeflüstert: „Wiesemann, reiß dich zusammen!“ Später habe sie ihm nie geglaubt, dass nur dieser eine Cognac schuld an seinem Schwips gewesen war.
Der Geschichte der Puppe und dem Schenkenden sind wir damit auf die Spur gekommen, und es ist sicher nicht überinterpretiert, in dieser kleinen zerlumpten Figur mit dem traurigen Gesicht Freuden und Leiden eines Menschen versinnbildlicht zu sehen – wie sie Ida Ehre als deutsche Jüdin in ihrem Leben als Frau und begeisterter Komödiantin und Prinzipalin der Hamburger Kammerspiele widerfahren sind. Vielleicht hat sie sie deshalb als Talisman angenommen?
Kraft, Demut und Güte sind denn auch die Begriffe, die die Hollmanns in der Erinnerung für die Freundin finden. Bei ihren zahlreichen Besuchen in Luhmühlen war sie Teil der Familie, sah die beiden Kinder aufwachsen, gab auch Ratschläge. Als Peter Ahrweiler Carlheinz Hollmann eine Rolle anbot, kam sie extra, sprach Stück und Rolle mit ihm durch und meinte nur kurz: „Sonnyboy, lassen Sie das!“
Weil nach Ida Ehres Tod neben ihrem Talisman auch noch eine Meißner Vase und ein Half-Dollar-Stück in den Besitz der Hollmanns kamen, soll auch die Geschichte dieser Münze noch schnell erzählt werden. Hollmann hatte sie aus Amerika mitgebracht und Ida Ehre hatte sie als Schlüsselanhänger benutzt.
Dann stellte sich ein Treppenwitz der Weltgeschichte und Münzprägung heraus: Die Münze stammt aus dem Jahr 1964 und zeigt John F. Kennedy als Präsidenten. „In God we trust“, steht auf ihr geschrieben. Das konnte nicht für die Herstellung der Münze gelten. Die hatte nämlich ein Kommunist besorgt und winzig klein Hammer und Sichel dem amerikanischen Präsidenten an den Hals geprägt. Die Münze wurde nach der Entdeckung der sowjetischen Embleme aus dem Verkehr gezogen und ist heute eine Rarität.
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